Moritz Schildt, Geschäftsführer der Krypto-Beteiligungsgesellschaft coinIX, erklärt im AKTIONÄR-Interview, wie tokenisierte Wertpapiere den Finanzmarkt revolutionieren und warum Aktien bald rund um die Uhr handelbar sein werden.
DER AKTIONÄR: Tokenisierung ist ein Begriff, der immer häufiger fällt. Was versteht man darunter und wie funktioniert das Ganze?
Moritz Schildt: Tokenisierung ist ein Thema, das bereits relativ früh in der Kryptogeschichte aufkam. Ursprünglich war der Gedanke, Real-World-Assets – also Immobilien, Kunst, Oldtimer oder Wein – für kleinere Retail-Investoren zugänglich zu machen, indem man ihnen Anteile an diesen Assets anbietet.
In der ersten Generation war das allerdings oft nur scheinbar echtes Eigentum. Faktisch gründete jemand eine GmbH, kaufte die Assets ein und emittierte eine Inhaberschuldverschreibung, die dann in Token aufgeteilt wurde. Das sah zwar attraktiv aus – man war scheinbar mit einem zehntausendstel Anteil an einem Mercedes SL beteiligt – aber bei genauerer Betrachtung hielt man nur einen Fremdkapitalanspruch gegen die GmbH.Jetzt haben wir eine zweite Generation: Echte tokenisierte Wertpapiere oder elektronische Wertpapiere. Hier wird nicht mehr eine Schuldverschreibung ausgegeben, sondern wir können sowohl Bonds als auch Aktien und in bestimmten Fällen sogar Fondsanteile tokenisieren. Das sind echte Wertpapiere, auf die das Aktiengesetz oder das KAGB anwendbar ist. Der Tokeninhaber ist genauso Aktionär oder Fondsanteilseigner wie jemand mit einem klassischen Bankdepot.Was sind die konkreten Vorteile gegenüber der traditionellen Abwicklung?
Der erste Vorteil ist die zeitliche Flexibilität: Diese Wertpapiere liegen in einer Wallet und können 24 Stunden, sieben Tage die Woche übertragen werden. Wer schon einmal versucht hat, ein Wertpapier von der Sparkasse zu einer Privatbank zu übertragen, weiß, dass das ein Prozess ist, der teilweise 14 Tage oder sogar sechs Wochen dauern kann.Der zweite Aspekt ist das instantane Settlement, besonders für institutionelle Investoren sehr spannend. Ich muss nicht mehr irgendwo eine Order aufgeben und dann T+2 Tage später das Wertpapier bekommen, sondern kann bei entsprechendem Handelspartner ein sofortiges Settlement durchführen.Der dritte Vorteil: Für den Erwerb digitaler Wertpapiere brauche ich keine Bank mehr. Die Funktion der Bank, die über die letzten 100 Jahre eine zwingende Voraussetzung war, entfällt. Man kann am Wochenende im Internet auf einer Plattform eine Aktie oder einen Fonds kaufen – instantan. Das Geld sind dann USDC oder ähnliche Stablecoins, und die Anteile werden sofort eingebucht.Wie sieht es mit der Übertragbarkeit aus? Kann man diese digitalen Wertpapiere beliebig übertragen?
In Deutschland braucht man für elektronische Wertpapiere einen Kryptoregisterführer – das ist eine erlaubnispflichtige Tätigkeit. Dieser muss die entsprechenden Wallets whitelisten und eine Know-Your-Customer-Prüfung durchführen. Man kann also nicht beliebig an irgendwelche Wallets übertragen.Das hat einen praktischen Hintergrund: Der deutsche Gesetzgeber wollte verhindern, dass bei Tod des Walletinhabers die Wertpapiere verloren gehen, wie es bei Bitcoin der Fall wäre. Der Kryptoregisterführer kann bei Vorlage eines Erbscheins die Wertpapiere aus einer Wallet herausnehmen und in eine andere übertragen.Entstehen durch die Tokenisierung auch zusätzliche Risiken?
Wenn es wie bei den Containerfonds 10.000 Fondsanteile, aber nur 9.000 Container gibt, dann ist das ein Problem, das auch die Blockchain nicht lösen kann. Bei der Tokenisierung von Real-World-Assets bleibt immer die Schnittstelle zwischen der echten Welt und der Chain.
Bei tokenisierten Fondsanteilen wie unserem coinIX-Fonds sehe ich aber einen großen Vorteil: Jeder Investor kann on-chain sehen, wie viele Fondsanteile ausgegeben sind, kann verfolgen, ob diese übertragen werden. Bei uns ist es auch theoretisch möglich zu überprüfen, welche Vermögensgegenstände wir erworben haben. Das ist zusätzliche Transparenz, die bei herkömmlicher Abwicklung nicht oder nur verzögert vorhanden ist.Sie haben mit coinIX bereits erfolgreich Fondsanteile digitalisiert. Wie praxistauglich ist die bestehende Infrastruktur?
Unser Fonds ist ein deutscher alternativer Investmentfonds (AIF), der normalerweise nicht einfach handelbar ist, weil Banken ihn erst whitelisten und freigeben müssen. Wir haben uns entschieden, diese Fondsanteile als tokenisierte Anteile zu emittieren.Das macht es für Banken zunächst noch schwieriger. Andererseits merken wir, dass insbesondere innovative Banken sich für das Thema öffnen und sogar dankbar sind, wenn sie ein echtes elektronisches Wertpapier vor die Flinte bekommen, wo sie das ausprobieren können.Wir haben es gemeinsam mit der V-Bank geschafft, die traditionelle Bankenwelt mit dem Blockchain-basierten Wertpapier zu verbinden. Ein traditioneller Kunde gab eine Order auf, die Bank zeichnete den Fonds, die neuen Fondsanteile wurden als Token gemintet und in die Wallet der V-Bank eingebucht. Das war der komplexe Teil für die Bank: Sie musste eine neue Schnittstelle zur Polygon-Blockchain aufbauen, um zu verwalten, welchem Kunden was gehört.Am Ende kommt es darauf an, dass die Fondsanteile auch auf dem Depotauszug angezeigt werden. Das klingt für einen Außenstehenden total banal, aber für eine Bank, die in ihren ganzen Prozessen darauf angewiesen ist, dass immer alle Kontrollmechanismen ausgeführt werden, ist das ein Novum. Insofern sind wir sehr stolz darauf, dass wir gemeinsam mit der V-Bank jetzt erstmalig elektronische Fondsanteile in ein klassisches Wertpapierdepot eingebucht haben.
Wie bewerten Sie die regulatorische Lage in Deutschland und der EU?
Das Interessante ist, dass viele denken, sobald es um Token geht, sitzt man automatisch in der MiCA-Welt. Wir sind mit diesen tokenisierten Fondsanteilen und Wertpapieren aber komplett in der MiFID-Welt, weil es echte Wertpapiere sind. MiCA gilt für alle anderen Token, sofern es sich nicht um Wertpapiere handelt.Auf der einen Seite ist es toll, dass wir in Europa einen sehr belastbaren Rechtsrahmen haben. Schwierig ist, dass MiCA sehr komplex ist – etwa 500 Seiten. Viele junge Start-ups mit tollen Ideen stellen fest, dass sie mindestens 20.000 Euro für einen Anwalt in die Hand nehmen müssen, bevor ein Token überhaupt auf ihrer Website auftauchen darf. MiCA hat leider keine Sandbox-Regelungen.Sie sehen also noch Handlungsbedarf bei der Regulierung?
Wir laufen Gefahr, dass in den USA Rahmenbedingungen geschaffen werden, die zwar laxer sind als in Europa, aber trotzdem einen verlässlichen Rahmen geben. Mit dem neuen Setup der amerikanischen Regierung können dort zunehmend amerikanische Emittenten neue Stablecoins emittieren und tokenisierte Unternehmensanteile ausgeben.Wir müssen aufpassen, dass wir mit MiCA nicht ein zu kompliziertes und anspruchsvolles Regelwerk geschaffen haben. Europa war schon einmal bei der letzten digitalen Revolution hinten dran – alle großen Web-2-Unternehmen sind in den USA angesiedelt. Das darf bei Blockchain-basierten Anwendungen nicht wieder passieren.Wird es in Zukunft mehr Tokenisierung an den Aktienmärkten geben?
Ich bin fest davon überzeugt, dass das die Zukunft ist. Es wird aber noch eine ganze Zeit dauern, bis ein relevanter Teil des deutschen Aktienmarktes über tokenisierte oder digitale Märkte abläuft.Kraken beispielsweise bietet bereits Aktienhandel auf ihrer Plattform an – mit dem Vorteil, dass man 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Aktien handeln kann. Es ist ein Anachronismus, dass ich die Tesla-Aktie am Wochenende nicht handeln kann, obwohl ich vielleicht aufgrund eines Tweets gerne schnell reagieren möchte.Die Vorteile dieses instantanen Settlements sind enorm. Das wird über kurz oder lang an jeder Stelle eine wichtige Rolle spielen. Genau wie die E-Mail, die den Brief abgelöst hat, weil sie sofort da ist, weil sie keine Kosten verursacht und weil das Risiko, dass sie verloren geht, einfach deutlich geringer ist.Welche Auswirkungen hat das auf traditionelle Banken?
Man kann den Vergleich zur ersten Web-2-Welle ziehen: Damals waren es Reisebüros und Buchläden, die lange sagten, die Kunden kommen doch persönlich und wollen Beratung. Pustekuchen! Alles wurde digital und online abgewickelt.
Banken waren von dieser ersten Digitalisierungswelle überhaupt nicht betroffen. Sie haben Online-Banking eingeführt, damit man wegen dem Kontoauszug nicht mehr in die Filiale muss, aber die Kernfunktionen – Geldverwahrung, Wertpapiererwerb, Ein- und Ausbuchung – blieben unberührt.Und wie ist die Situation heute?
Jetzt haben wir zum ersten Mal eine Technologie, die uns in die Lage versetzt, all das auch ohne Bank zu machen. Bis sich das in unserem Bewusstsein und in unserem täglichen Handeln festsetzt, wird noch eine gewisse Zeit vergehen. Aber am Ende des Tages brauchen wir diese klassischen Bankfunktionen nicht mehr.Es gibt bereits eine nachwachsende Generation zwischen 16 und 25 Jahren, die ihr Geld aktiv im Kryptomarkt investiert und gar kein Bankdepot hat. Wenn man ihnen sagt, sie sollen ein Depot eröffnen, um einen ETF oder eine Aktie zu kaufen, fragen sie: „Wofür?“ Und wenn in der traditionellen Sparkasse ein beschlipster Mensch steht und sagt, ich muss erst sieben Seiten Formulare ausfüllen und eine Risikobelehrungen machen, bevor ich entscheide, wie ich mein Geld anlege, dann ist das ein bisschen „oldschool“. Mit diesem Thema müssen sich alle Banken beschäftigen. Und ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, dass sie sich für die elektronischen Abwicklungsarten öffnen. Am Ende bleibt dann die Frage, wie viel man mit Beratung und Portfolio-Management in einem solchen Umfeld noch verdienen kann.Haben traditionelle Börsen und Clearingstellen wie Clearstream dann noch eine Zukunft?
Ich glaube, es wird alles Blockchain-basiert laufen. Die amerikanische CFTC führt bereits Blockchain-basiertes Settlement für OTC-Derivate ein. Wenn es nur noch den Blockchain-Standard gibt, wird der globale Austausch viel einfacher und schneller.Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder baut Clearstream eine eigene Unit und versucht, ihren Ruf und ihre Kundenbasis auf die neue Architektur zu übertragen, oder andere Player bieten eine deutlich schnellere, bessere, digital funktionierende Architektur an, die Clearstream überflüssig macht.Über welchen Zeitrahmen sprechen wir?
Ich glaube, dass wir in den nächsten 12 bis 18 Monaten viele Pilotprojekte sehen werden – Einzelfälle, wo der Handel mit elektronischen Wertpapieren ausprobiert wird. Das ist momentan ein Markt für Early Adopter.
Und ich kann mir gut vorstellen, dass wir schon in den nächsten zwei Jahren intelligente Produkte von großen Playern sehen werden, die eine signifikante Allokation in tokenisierte, digitale Wertpapiere überspielen. Das Thema Stablecoin ist bereits extrem im Gespräch – mit Stablecoins kann man Zinsen verdienen, was sehr spannend ist.Teile dieses Interviews sind in Ausgabe 35/2025 von DER AKTIONÄR erschienen.