BRÜSSEL (dpa-AFX) - Droht Europa ein noch größerer Krieg? In einem Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht Nato-Generalsekretär Mark Rutte kurz vor Weihnachten über die aktuelle Sicherheitslage und die Dinge, die es aus seiner Sicht nun zu tun gibt. Deutschland spielt dabei eine Schlüsselrolle - der Ukraine macht er zumindest in einem Punkt keine großen Hoffnungen.
Frage: Herr Generalsekretär, Sie sagten vor ein paar Tagen in einer Rede in Berlin: "Wir sind Russlands nächstes Ziel, und wir sind bereits in Gefahr." Glauben Sie wirklich, dass Kremlchef Wladimir Putin einen Angriff auf einen Nato-Verbündeten befehlen könnte - und damit das stärkste Militärbündnis der Welt herausfordern würde?
Antwort: Was ich weiß: Da ist jemand, der verrückt viel Geld ins eigene Militär steckt. Er gibt inzwischen mehr als 40 Prozent des Staatshaushalts für Rüstung aus. Und er ist bereit, in diesem Krieg in der Ukraine 1,1 Millionen Menschen zu opfern.
Aber ich denke, wir können einen Angriff verhindern - indem wir sicherstellen, dass wir alle Beschlüsse umsetzen, die wir im Sommer beim Gipfel in Den Haag gefasst haben. Da geht es um die Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Zudem müssen wir dafür sorgen, dass die Ukraine stark bleibt. Wenn wir diese beiden Dinge tun, sind wir stark genug, uns zu verteidigen, und Putin wird es niemals versuchen.
Frage: Wenn Sie sagen, die Nato könnte das nächste Ziel sein: An welche Länder denken Sie? Sind Polen und Deutschland ebenfalls direkt gefährdet?
Antwort. Ich werde nicht spekulieren, wo und wann und wie genau. Am Ende gilt: Wenn es einen Angriff auf die Nato gibt, dann sind wir alle angegriffen - weil das ist Artikel 5. Das heißt: Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle.
Frage: Wie viel Zeit haben wir zur Vorbereitung?
Antwort: Manche Nachrichtendienste sagen 2027, andere 2029, 2031. Aber selbst 2031 ist morgen - 2029 ist heute Nachmittag, 2027 ist jetzt. Das heißt: Wir müssen die Verteidigungsausgaben wirklich hochfahren, so wie wir es in Den Haag beschlossen haben - und begreifen, dass die Beschlüsse bei weitem nicht ausreichen würden, wenn die Ukraine verlieren würde.
Frage: Sollten die europäischen Nato-Verbündeten auch ihre nukleare Abschreckung stärken - nur für den Fall, dass die Vereinigten Staaten sich als weniger verlässlicher Verbündeter erweisen, als wir alle hoffen?
Antwort: Ich mache mir überhaupt keine Sorgen um die USA, weil sich die USA der Nato uneingeschränkt verpflichtet fühlen. In der nationalen Sicherheitsstrategie steht klar: Für die USA ist ein sicheres Europa Priorität, eine starke Nato und ein enges Zusammenstehen zwischen den USA und dem EU-Teil der Nato.
Aber ich mache mir auch deshalb keine Sorgen, weil die USA eigene, sehr konkrete Interessen in der Nato haben. Die Arktis ist ein großes Thema. Wir sehen chinesische und russische Schiffe, die dort unterwegs sind. Und wir können die Arktis nur gemeinsam verteidigen - europäische und amerikanische Nato-Verbündete zusammen.
Und natürlich ist auch der Nordatlantik entscheidend für die Sicherheit der USA. Um den Nordatlantik sicher zu halten, brauchen die USA eine starke europäische Seite der Nato. Wir sitzen da alle im selben Boot - nicht nur aus historischen, sondern auch aus praktischen Gründen.
Frage: Am Ende ist es also nicht nötig, dass die europäischen Verbündeten ihre nukleare Abschreckung stärken?
Antwort: Wenn es um nukleare Abschreckung geht, ist der amerikanische nukleare Schutzschirm unsere ultimative Garantie - und daran ändert sich nichts. Natürlich haben einige europäische Nato-Verbündete eigene nukleare Fähigkeiten, und wir arbeiten dabei direkt und indirekt zusammen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Ukraine-Krieg: Friedensbemühungen und Sicherheitsgarantien
Frage: In den vergangenen Wochen haben die USA ihre Bemühungen verstärkt, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden. Es gab Dutzende Gesprächsrunden, an einigen waren auch Sie beteiligt. Wie optimistisch sind Sie, dass das Töten in der Ukraine spätestens bis nächstes Jahr gestoppt werden kann?
Antwort: Ich möchte keine Vorhersagen machen. Ich kann nur sagen: Alle arbeiten extrem hart - die Amerikaner, die Europäer und natürlich die Ukraine. Der amerikanische Präsident hat im Februar eine Blockade mit Putin durchbrochen, als er ihn erstmals anrief und begann, über die Ukraine zu sprechen. Seitdem ist er im Grunde jeden Tag, jede Woche, jeden Monat dran - mit dem konstanten Fokus darauf, die Ukraine-Frage zu lösen, es hinzubekommen.
Es gibt ein klares Verständnis, dass wir - wie auch immer das Ergebnis des Krieges genau aussieht - verhindern müssen, dass die Russen jemals wieder versuchen, die Ukraine anzugreifen. Das bedeutet: Wir brauchen sehr starke Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Damit Putin weiß: Wenn ich es noch einmal versuche, wird die Reaktion verheerend sein.
Die Nato-Hoffnungen der Ukraine
Frage: Um Putin an den Verhandlungstisch zu bekommen, wird von der Ukraine verlangt, eine seiner Kernforderungen zu akzeptieren und das Ziel aufzugeben, der Nato beizutreten. Finden Sie, dass der Aggressor solche Forderungen durchsetzen darf?
Antwort: Hier gibt es eine prinzipielle und eine praktischere Seite. Die prinzipielle Seite ist klar: Der Washingtoner Vertrag gilt, und auch die Erklärung des Washingtoner Gipfels gilt - das ist der unumkehrbare Weg der Ukraine in die Nato. Die praktische Seite ist: Wir wissen, dass einige Verbündete erklärt haben, dass sie derzeit gegen eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft sind. Das ist die Realität
- und damit müssen wir umgehen.
Frage: Aber offensichtlich ist das nicht nur "derzeit". Die USA scheinen Russlands Perspektive auf die Nato-Erweiterung übernommen zu haben. In der neuen nationalen Sicherheitsstrategie heißt es: "Unsere übergreifende Politik für Europa sollte vorrangig darauf zielen, zu verhindern, dass die Nato als dauerhaft expandierendes Bündnis Realität wird." Sprechen Sie so etwas bei Präsident Trump oder anderen ranghohen US-Vertretern an?
Antwort: Die Amerikaner sind damit im Moment nicht allein. Wir haben auch andere Verbündete, die sagen, dass sie derzeit gegen eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft sind. Auch die deutsche Regierung war darin ziemlich zurückhaltend - zumindest die vorherige deutsche Regierung. Wir haben Ungarn und die Slowaken gesehen, die sich wirklich klar dagegen positioniert haben. Wir wissen, dass es in den USA große Zweifel gibt. Also ja: Es gibt diese zwei Seiten der Medaille. Die eine ist, dass das Prinzip gilt. Aber die praktische Realität ist auch: Im Moment gibt es keinen Konsens.
Frage: Die Nato-Verbündeten müssen jetzt regelmäßig über ihre geplanten Verteidigungsausgaben berichten. Können Sie sagen, in welche Richtung sich das entwickelt und wo Deutschland am Ende landen könnte?
Antwort: Was Deutschland derzeit tut, ist wirklich beeindruckend. Wenn Sie 2021 mit 2029 vergleichen und wir uns die projizierten Zahlen und Summen für Deutschland ansehen, dann werden sie die 3,5 Prozent Kern-Verteidigungsausgaben bereits 2029 erreichen - während die Zusage lautet, dass wir alle das bis 2035 erreichen.
Natürlich liegen Polen und die baltischen Republiken bei den Verteidigungsausgaben (nach BIP) weiterhin sehr weit vorn, aber dann kommen die Deutschen unmittelbar dahinter. Und beim insgesamt ausgegebenen Geld sind sie - außerhalb der USA - ganz klar Nummer eins. Hier geht Deutschland voran. Und das ist entscheidend, weil es die größte Volkswirtschaft Europas ist. Ohne Deutschland geht das nicht. Sie müssen diese Führungsrolle gegenüber den anderen zeigen - und sie tun es.
Zur Person: Der Niederländer Mark Rutte (58) ist seit dem 1. Oktober 2024 Generalsekretär der Nato und in dieser Position vor allem dafür zuständig, die politischen Abstimmungsprozesse zwischen den Alliierten zu koordinieren. Zuvor war der studierte Historiker knapp 14 Jahre Regierungschef der Niederlande, so lange wie bislang kein anderer in seinem Heimatland. Rutte gilt als pragmatisch und bescheiden und ist bekannt dafür, meist sehr gut gelaunt zu wirken./aha/DP/mis